30 km/h innerorts als Regelgeschwindigkeit – Sicherheitsaspekte einer Debatte

Die Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h innerhalb geschlossener Ortschaften wurde 1957 in die Straßenverkehrsordnung eingeführt. Zuvor konnte man beliebig schnell fahren. Welches Potenzial würde eine erneute Anpassung mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche Verpflichtung zur Vision Zero bieten?

Nach Jahren der Diskussion verabschiedete 2021 der Deutsche Städtetag auf Initiative von mehr als 1.000 Kommunen die Resolution „Tempo 30 – lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“. Demnach fordern die Kommunen, dass ihnen folgende Kompetenzen eingeräumt werden:

  • innerorts die Geschwindigkeitsbegrenzung von Tempo 30 km/h für einzelne Straßen unabhängig von besonderen Gefahrensituationen anzuordnen
  • ein generelles Tempolimit von 30 km/h anzuordnen und nur auf ausgewählten Hauptverkehrsstraßen Tempo 50 oder eine andere stadt- und menschenverträgliche Geschwindigkeit zuzulassen

Um diesen Forderungen zumindest entgegenzukommen, wurde im Koalitionsvertrag vereinbart: „Wir werden Straßenverkehrsgesetz und Straßenverkehrs-Ordnung so anpassen, dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen.“

Ende November 2023 sind der Gesetzentwurf zur Anpassung des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) und in seiner Folge die notwendigen Ermächtigungen in der Straßenverkehrsordnung (StVO) im Bundesrat abgelehnt worden und es wird wohl in den Vermittlungsausschuss gehen. Als Begründung wird angeführt, dass die Verkehrssicherheit nicht aus Gründen des Klimaschutzes aufgeweicht werden dürfe. Weitere Argumente wurden nicht angeführt.

Unabhängig von dieser politischen Debatte vollziehen sich gerade grundlegende Veränderungen in innerörtlichen Verkehrsräumen, die mit erheblichen Sicherheitsrisiken einhergehen und auf die im Weiteren noch eingegangen wird.

Die Physik und ihre Folgen

Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zur Verkehrssicherheit ist ein bekannter Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit und Unfallrisiken:

Auch wenn die Geschwindigkeit als Unfallursache innerorts statistisch keine dominante Rolle spielt, so sind natürlich alle Unfallfolgen sehr stark von der Geschwindigkeit abhängig. Maßgeblich ist dabei die Bewegungsenergie, die bei 50 km/h fast dreimal so hoch ist wie bei 30 km/h.

Höhere Geschwindigkeit führt bei den Unfallbeteiligten grundsätzlich zu stärkeren Verletzungen. Besonders dramatisch sind die Folgen bei Kollisionen zwischen Fahrzeugen und ungeschützten Verkehrsteilnehmenden wie zu Fuß gehende und mit dem Fahrrad fahrende Personen (siehe Abbildung 1[1]). Bei 30 km/h überleben neun von zehn Personen diesen Unfall. Bei 50 km/h werden dagegen neun von zehn der ungeschützten Verkehrsteilnehmenden getötet. Genau dies ist das zentrale Argument, das für eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h innerorts angeführt wird.

Abbildung 1: Wahrscheinlichkeit eines Todesfalls in Relation zur Geschwindigkeit | © Jurewicz, C.; Tofler, S.; Makwasha, T. (2015): Improving the Performance of Safe System Infrastructure, Final Report.
Abbildung 1: Wahrscheinlichkeit eines Todesfalls in Relation zur Geschwindigkeit ©Jurewicz, C.; Tofler, S.; Makwasha, T. (2015): Improving the Performance of Safe System Infrastructure, Final Report.

Folgendes Szenario veranschaulicht den Unterschied: Ein Auto fährt 30 km/h und völlig überraschend tritt eine Person auf die Fahrbahn. Das Auto kommt unmittelbar vor dieser Person noch zum Stehen. Wäre das Auto auf derselben Strecke mit 50 km/h unterwegs gewesen und hätte der Fahrer die Person an derselben Stelle erkannt: Wie hoch wäre die Kollisionsgeschwindigkeit?

© IAG: https://public-e-learning.dguv.de
©IAG: https://public-e-learning.dguv.de

Es ist naheliegend, dass der FUSS – Fachverband Fußverkehr Deutschland und der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) sich für die Regelgeschwindigkeit von 30 km/h innerorts aussprechen. Aber auch Verbände wie der VCD Verkehrsclub Deutschland oder der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) unterstützen dieses Anliegen seit einiger Zeit.

Nach der Verkehrsunfallstatistik beträgt das Potenzial der tödlichen Verkehrsunfälle, die gegebenenfalls vermieden werden könnten, bis zu 500.[2]

Eine Reduktion der Geschwindigkeit hätte Folgen für die Reisedauer: So kommt ein Forschungsprojekt des Umweltbundesamts[3] zum Ergebnis, dass bei einer Geschwindigkeit von 30 km/h auf innerörtlichen Strecken die Reisegeschwindigkeit um bis zu 4,4 km/h sinkt sowie die Reisedauer um bis zu zwei Minuten ansteigen kann – dabei handelt es sich um Mittelwerte.

Abbildung 2: Per Fahrrad und zu Fuß ist man im Straßenverkehr besonders gefährdet. | © DGUV
Abbildung 2: Per Fahrrad und zu Fuß ist man im Straßenverkehr besonders gefährdet. ©DGUV

In der Praxis belegen die Ergebnisse den positiven Effekt von 30 km/h innerorts. In Helsinki wurden 2019 erstmalig keine zu Fuß gehenden und mit dem Fahrrad fahrenden Personen getötet. Die Vision Zero wurde für diese Verkehrsteilnehmenden also erreicht (Höchstwert 84 im Jahr 1965). Alle Modellstädte wie London oder Graz zeigten in den vergangenen Jahren vergleichbare Effekte: Die Zahl der Schwerverletzten und Toten wurde um bis zu 60 beziehungsweise 80 Prozent reduziert. In Spanien trat 2021 landesweit eine 30-km/h-Regelung innerhalb geschlossener Ortschaften in Kraft.[4]

Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit dem Nilsson-Power-Modell[5], das einen nicht linearen Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit und Unfällen sowie Unfallfolgen beschreibt und dessen Exponent P für unterschiedliche Verkehrsräume bereits kalibriert werden konnte:

Will man also Todesfälle und schwere Verletzungen reduzieren, so ist der wirksamste Ansatz die Geschwindigkeit. Der Exponent in der Formel variiert etwas je nach Verkehrsraum und beträgt auf Überlandstraßen 4,6 und für den innerstädtischen Verkehrsraum 3.

Bezogen auf die Unfallzahlen 2022 würde dies zumindest theoretisch bedeuten, dass innerhalb geschlossener Ortschaften 470 Personen nicht hätten sterben müssen und mehr als 20.000 Menschen keine schweren Verletzungen durch einen Unfall davongetragen hätten.

Entspannung durch Entschleunigung?

Darüber hinaus gibt es einen Effekt, der sogar einige kritische Stimmen zum Umdenken brachte: Bei niedriger Geschwindigkeit wird es deutlich leiser!

So geht aus der Studie des Umweltbundesamtes auch hervor, dass die sogenannte Lärmkennziffer (Ereignisse über einem dB(A)-Wert bei 65 dB(A)) bei Tempo 30 um 50 Prozent gesenkt wird gegenüber Tempo 50. Bei einer vollelektrischen Fahrzeugflotte wären sogar um die 90 Prozent möglich.

Andere Diskussionen darüber, dass eine solche Regelung gravierende Nachteile habe – von der Emission der Fahrzeuge bis zur Verschiebung von Verkehr in Wohngebiete –, sind oft nicht belastbar, insbesondere wenn auf Hauptverkehrsstraßen weiterhin 50 km/h gelten.

Eine Änderung der Regelgeschwindigkeit wäre im Übrigen auch eine Erleichterung für Autofahrerinnen und -fahrer. Der Grund: Aktuell liegt ihr Risiko darin, bei der Einfahrt in eine Tempo-30-Zone das Hinweisschild zu übersehen. Eine solche Unaufmerksamkeit erhöht nicht nur die Gefahr eines schweren Unfalls, sondern im Fall einer Kontrolle auch das Risiko eines einmonatigen Fahrverbots. Ändert man die Regelgeschwindigkeit, besteht das Risiko erst mal nur darin, auf einer Straße mit Tempo 50 langsamer zu fahren als erlaubt.

Nach dem Zweiten Krieg wurde in vielen Städten der Verkehr auf das Auto ausgerichtet und Verkehrsräume gewannen damit zunächst einmal an Übersichtlichkeit. Doch diese geht verloren, und das hat mehrere Gründe: die hohe Verkehrsdichte, die Auflockerung von Verkehrsräumen sowie die Zunahme einer Vielzahl unterschiedlicher Verkehrsbeteiligungsarten.

Der Verkehrsraum und seine Nutzung verändern sich

Spätestens seit der Corona-Pandemie hat der Anteil des Fahrrads am Verkehrsaufkommen stark zugenommen. Pedelecs fallen schon fast in eine eigene Kategorie, genauso wie E-Scooter. Diese müssen von den übrigen Verkehrsteilnehmenden differenziert wahrgenommen werden sowie von anderen Fahrrädern beziehungsweise von Fußgängerinnen und Fußgängern unterschieden werden, da sie jeweils zum Teil deutlich schneller sind. Noch dazu ist zu erwarten, dass in den nächsten Jahren der Anteil der Lastenfahrräder kontinuierlich steigen wird. Der Branchenverband Radlogistik geht von einem Marktpotenzial von 30 Prozent der innerstädtischen Logistik aus – da kommt also etwas auf alle Verkehrsteilnehmenden zu.

Die Unfallforschung der Versicherer (UDV)[6] hat kürzlich die Ergebnisse von Unfällen zwischen zu Fuß gehenden Personen und Lastenrädern veröffentlicht. Demnach sollten diese beiden Gruppen sich keinen gemeinsamen Verkehrsraum teilen, sonst sind schwerste Verletzungsbilder zu erwarten.

Lastenfahrräder sollten besser auf der Straße fahren. Und spätestens in Bereichen, wo eine separate Spurführung nicht möglich ist, wird es zwingend geboten sein, die Differenzgeschwindigkeiten anzugleichen. Nimmt dann auch noch der Anteil der E-Scooter in städtischen Gebieten zu, werden deutlich erhöhte Anforderungen an die Wahrnehmung und Informationsverarbeitung des Menschen gestellt.

Abbildung 3: Simulation einer Kollision eines Lastenfahrrads mit einer zu Fuß gehenden Person | © UDV
Abbildung 3: Simulation einer Kollision eines Lastenfahrrads mit einer zu Fuß gehenden Person ©UDV

Physiologische Grenzen der Wahrnehmung und Reaktion

Hierin liegt ein weiterer Grund, der für eine Absenkung der Geschwindigkeit spricht. Bei voller Konzentration ist der Mensch in der Lage, drei bis fünf Informationen pro Sekunde wahrzunehmen. Zum einen reduziert sich durch Stress und Ablenkung diese Fähigkeit rapide. Zum anderen kann bei einer Vielgestaltigkeit, in diesem Fall des Verkehrsraums und seiner Objekte, die Wahrnehmungsleistung nur durch Anpassung der Geschwindigkeit aufrechterhalten werden. Es gilt also, mehr Zeit zu schaffen für Wahrnehmung und Reaktion, gerade in Zeiten, in denen bereits viele Ablenkungen, sprich: Endgeräte, im Fahrzeug vorhanden sind. Unter dem Aspekt der Selbstverantwortung beziehungsweise Freiheitsaspekten kann man auch auf § 3 Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) verweisen: „Die Geschwindigkeit ist insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen.“ Sowie weiter: „Wer ein Fahrzeug führt, muss sich gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.“

Verantwortliches Verhalten ist zweifelsohne wichtig, sollte jedoch nie der erste oder einzige Ansatzpunkt für Prävention sein. Eine Rolle spielt auch der regulatorische Rahmen. Dieser sollte Sicherheitspuffer für menschliche Fehler vorsehen - insbesondere wenn Unfallrisiken aufgrund steigender Fahrzeugdichte und schwereren Fahrzeugtypen zunehmen.

Was hingegen vermieden werden sollte: die Fahrwege noch unübersichtlicher und mit Schikanen zu gestalten. Das ist bezüglich der Wahrnehmungsleistung kontraproduktiv, führt tendenziell wieder zu einer Erhöhung des Lärmpegels und behindert im Ernstfall zusätzlich die Einsatzfahrzeuge.

Auch die Verkehrsteilnahme der Fußgängerinnen und Fußgänger hat sich seit 1957 stark verändert. Nicht wenige haben Stöpsel im Ohr, mit denen sie telefonieren oder Musik hören, und schauen vielleicht zusätzlich noch auf ihr Smartphone. Das wird man nicht mehr ändern, also sollten wir die Verhältnisse im Straßenverkehr daran anpassen.

Umfragen zufolge sind die Finnen das glücklichste Volk der Welt. Vielleicht liegt das ja auch daran, dass sie durch den Verkehr weniger gestresst sind?