Hochautomatisiertes Fahren: Welche Aufgaben beeinflussen die Fahrzeugübernahme?

Arbeiten, während das Auto autonom und unfallfrei zum Ziel fährt, ist das große Versprechen der Hersteller autonomer Fahrfunktionen. Bis es so weit ist, benötigt das Auto menschliche Hilfe. Fahrende müssen daher bei einer Übernahmeaufforderung ihre Arbeit schnell unterbrechen und die Fahraufgabe wieder übernehmen. Bei welchen fahrfremden Aufgaben kann das sicher funktionieren?

"Piep! Bitte übernehmen Sie!“ Diese oder ähnliche dringende Meldungen werden Fahrende in hochautomatisierten Fahrzeugen hören, wenn die Automatik kurzfristig die Kontrolle über das Fahrzeug zurück an den Menschen geben muss.

Die Gründe für eine Übernahmeaufforderung (Take-Over-Request, TOR) können vielfältig sein: ein technischer Defekt, eine unerkannte Straßenmarkierung oder durch Umweltbedingungen verringerte Erkennungsleistung des Systems. Oder auch nur das Verlassen des zulässigen Level-3-Bereichs ist einer der Gründe für die Auslösung einer Übernahmeaufforderung.

In Fahrzeugen, die hochautomatisiertes Fahren (ab Level 3, vgl. SAE[1], siehe Abbildung 1) anbieten, dürfen Fahrende während der Fahrt die Kontrolle über das Fahrzeug an die Automatik abgeben und sich anderen – nichtfahrbezogenen – Aufgaben (Non-Driving-Related-Tasks, NDRT) zuwenden. Dabei müssen sie die Fahraufgabe jederzeit unverzüglich wieder übernehmen können.[2]

Abbildung 1: Stufen des automatisierten Fahrens | © DGUV
Abbildung 1: Stufen des automatisierten Fahrens ©DGUV

Insbesondere im beruflichen Kontext werden Fahrende im Automatikmodus des Fahrzeugs vermutlich mit anderen Aufgaben beschäftigt sein. Da sind beispielsweise Telefongespräche zu erledigen, Notizen zu machen, Tabellen auf dem Computer zu erstellen, ein Fortbildungsvideo zu schauen oder andere Aufgaben, die nichts mit der Fahraufgabe zu tun haben. Sie sind „out of the loop“, also weg von der Fahraufgabe.[3] Fahrende kontrollieren dabei weder das Fahrzeug noch überwachen sie die Fahrsituation.[4]

Nach der Übernahmeaufforderung müssen Fahrende erst einmal die aktuelle, nichtfahrbezogene Aufgabe beenden, sich einen Überblick über die Verkehrslage verschaffen, die physische Kontrolle des Fahrzeugs (zum Beispiel Hände ans Steuer) wieder übernehmen und dann entscheiden, was zu tun ist (zum Beispiel Spur wechseln, bremsen oder andere Aktionen). Statt Fahrende von Aufgaben zu entlasten, erhöht sich sogar die Arbeitsbelastung.[5][6] Auch der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) hat im Beschluss von 2015 den Forschungsbedarf zu Kriterien der Übernahmebereitschaft erkannt.[7] Auf Basis der aktuellen Ergebnisse einer Simulatorstudie der Autorin und des Autors dieses Beitrags und der Literaturrecherche wurde ein erstes Ampelmodell vorgeschlagen, das die Gefährdungsbeurteilung und GUROM (Online-Tool zur Analyse, Beurteilung und Prävention von Mobilitätsgefahren) unterstützen kann.

Aktueller Forschungsstand

Ergebnisse aktueller Studien[8] zeigen, dass nichtfahrbezogene Nebenaufgaben die Zeit verlängern, bis Fahrende wieder „in the loop“ sind, also die Fahraufgabe vollständig übernommen haben. Besonders ungünstig sind Aufgaben, die ein Gerät erfordern, das vor der Übernahme erst einmal abgelegt werden muss.[9]

Ähnelt die nichtfahrbezogene Aufgabe strukturell stark der Fahraufgabe, werden also für diese Aufgabe beispielsweise Informationen visuell aufgenommen und Aktionen manuell ausgeführt, so beeinflusst sie ebenfalls die Übernahmefähigkeit negativ. Das könnte beispielsweise das Ausfüllen von Listen oder das Bedienen von Computersimulationen sein.

Es ist anzunehmen, dass fahrfremde Aufgaben, die Fahrende auch geistig fordern, bei dienstlich veranlassten Fahrten an Bedeutung zunehmen werden. Die spezifischen Wirkungen einzelner Aufgabeneigenschaften wurden in der bisherigen Forschung eher untergeordnet betrachtet.
Bislang ist wissenschaftlich noch nicht schlüssig geklärt, inwiefern Art und Ausmaß geistiger Belastung durch eine fahrfremde Aufgabe die Sicherheit einer Übernahme beeinflussen.

Ebenfalls nicht gut belegt ist, ob aufgabenbedingte Belastungen die Fahrenden geistig und gefühlsmäßig beeinträchtigen, beispielsweise Stress oder Ermüdung hervorrufen. Offen ist auch, ob kürzere Übernahmezeiten automatisch zu weniger sicheren Übernahmen führen.

Deshalb untersuchte das Institut für Arbeit und Gesundheit (IAG) gemeinsam mit der Professur Ingenieurspsychologie und angewandte Kognitionsforschung der Technischen Universität Dresden (TUD) den Einfluss verschiedener Aufgabeneigenschaften auf die Übernahmezeit und -qualität sowie auf negative Folgen der Beanspruchung. Die Untersuchungen wurden im Rahmen des Projekts FP 429 „Aufgabeneinflüsse auf die Übernahme aus hochautomatisierter Fahrt“ durchgeführt.

Die Fragen, die sich stellen, sind klar: Gibt es Aufgaben, die als nichtfahrbezogene Aufgabe besser geeignet sind als andere? Welchen zusätzlichen psychischen Belastungen sind Fahrende ausgesetzt, die nichtfahrbezogene, aber berufsbezogene Tätigkeiten während der hochautomatisierten Fahrt erledigen?

Methode „Fahrfremde Aufgabe“

Als Nebenaufgabe für die Fahrenden wurde eine computerbasierte Routenplanungsaufgabe konzipiert, die für Forschungszwecke diverse Variationsmöglichkeiten bietet. Die Variationsmöglichkeiten beziehen sich auf die für die Aufgabenlösung notwendigen Ressourcen:

  • das deklarative Gedächtnis (Erinnern von Fakten)
  • das menschliche visuelle System (mit darauffolgender manueller Aktion bei Drag-and-drop)
  • dem Merken eines Aufgabenzwischenstands (Problemzustandsressource)

Diese Variationsmöglichkeiten wurden anhand von Überlegungen zur „Theory of Threaded Cognition“[10] vorgesehen.

Die Routenplanungsaufgabe wurde schon im Vorfeld einer Online- und einer Realstudie auf dem Lausitzring erfolgreich eingesetzt.[11]

Fahraufgabe

Die Studie wurde im dynamischen Simulator des IAG in Dresden durchgeführt. In der Simulationssoftware SILAB[12] entwickelte das Projektteam aus IAG und TU Dresden mehrere Fahrten mit drei unterschiedlichen Übernahmeszenarien (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Übernahmeszenarien FP 429 | © DGUV
Abbildung 2: Übernahmeszenarien FP 429 ©DGUV

Auf allen Strecken fuhr das Fahrzeug nach dem manuellen Start auf einem Rastplatz automatisch auf die Autobahn, überholte langsamere Fahrzeuge, wechselte die Spur und passte die gefahrene Geschwindigkeit an die Umgebungsbedingungen an. Während dieser Fahrt fiel die Automatik aus, zum Beispiel aufgrund nicht eindeutiger Spurmarkierungen oder zu geringer Sichtweite durch Nebel. Der Fahrer beziehungsweise die Fahrerin hatte dann acht Sekunden Zeit, die Kontrolle zu übernehmen. Die Fahrenden mussten nach der Übernahme auf unvorhersehbare Ereignisse reagieren (zum Beispiel ein vorausfahrendes Fahrzeug, das stark bremste).

Durch experimentelle Variationen der NDRT wurden die Personen in unterschiedlicher Weise beansprucht.

Die untersuchten Aufgabeneigenschaften wurden hinsichtlich der Schnelligkeit, mit der die Fahrenden übernehmen, und ihres Unfallpotenzials beurteilt. Zusätzlich wurden in dem Beurteilungsinstrument die aus den Aufgabeneigenschaften resultierende psychische Beanspruchung und mögliche kurzfristige negative Beanspruchungsfolgen zusammengefasst. Diese leiten sich aus der durchgehenden Messung von Blickbewegungen, der Herzratenvariabilität und den Werten der ausgefüllten Fragebögen an zwei beziehungsweise drei Messzeitpunkten ab. Ein Überblick der verwendeten Instrumente und der Messzeiträume sind in Tabelle 1 zu finden.

Tabelle 1: Übersicht der Fragebögen und der Messzeitpunkte der Erhebung | © DGUV
Tabelle 1: Übersicht der Fragebögen und der Messzeitpunkte der Erhebung ©DGUV


Zur Datenerhebung konnten 76 Versuchspersonen eingeladen werden, die den umfangreichen Einschlusskriterien (etwa jährliche Fahrleistung, Visus, Gesundheitswerte) genügten. Davon mussten vier Personen während des Versuchs ausgeschlossen werden. Eine Person konnte nicht teilnehmen, da sie ausgeprägte Ängstlichkeit vor der automatisierten Fahrfunktion verspürte. Die teilnehmenden Personen waren zwischen 18 und 54 Jahren alt. Die jährliche Fahrleistung der Personen betrug mindestens 10.000 Kilometer pro Jahr. 15 Personen hatten ein Fahrsicherheitstraining absolviert, fünf Personen gaben an, an der Entwicklung von hochautomatisierten Fahrzeugen beteiligt zu sein. Weitere 28 Personen hatten keinerlei Erfahrungen mit fortschrittlichen Assistenzsystemen (ADAS).

In der Untersuchung absolvierten die Teilnehmenden drei Fahrten im Simulator des IAG mit der hochautomatisierten Fahrfunktion. Die Versuchspersonen sollten als Mitarbeitende eines Cateringunternehmens dienstlich zu Kundschaft fahren. Während der automatisierten Fahrt sollten in zwei Fahrten weitere Lieferungen in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden (Variation der kognitiven Ressourcen) geplant werden. Für korrekt gelöste Routenaufgaben wurde ein finanzieller Bonus in Aussicht gestellt, der durch fehlerhaft oder unbearbeitete Aufgaben wieder verringert wurde. Bei einer dritten Fahrt mussten die Versuchspersonen keine Routenplanungsaufgabe lösen.

Die Fahrten dauerten je etwa 40 Minuten. Nach 28 beziehungsweise 35 Minuten hochautomatisierten Fahrens wurde eine Übernahmeaufforderung ausgelöst. Dabei bearbeitete eine Gruppe von 34 Personen Aufgaben, die es erforderten, sich stets den aktuellen Ergebnisstand der Aufgabe zu merken, um die Route nach einer Unterbrechung weiter bearbeiten zu können (Beanspruchung der Problemzustandsressource). Die anderen 35 Personen bearbeiteten die Routenplanungsaufgabe, ohne sich den aktuellen Ergebnisstand merken zu müssen (keine Beanspruchung der Problemzustandsressource). Jede Person bearbeitete die Aufgaben einmal unter Bedingungen, die das Lesen der Informationen und Ausführen der Routenplanung per Drag-and-drop erschwerten (erhöhte visuell-manuelle Beanspruchung), und einmal ohne erhöhte visuell-manuelle Beanspruchung. Die Reihenfolge, in der die Aufgabenbedingungen und die Fahrten absolviert wurden, waren ausbalanciert, um Reihenfolgeeffekte auszuschließen.

Ergebnisse der Datenauswertung

Die Auswertung der Daten der Studie ergab folgendes Bild:

Alle nichtfahrbezogenen Aufgaben, die nur mit einem Gerät bearbeitet werden können, das in der Hand gehalten werden muss, sind nicht geeignet. Ebenfalls nicht geeignet sind Aufgaben, die hohe Anforderungen an die visuelle Informationsaufnahme stellen, zum Beispiel Werte ablesen, Änderungen in Tabellen beobachten.

Nichtfahrbezogene Aufgaben, die hohe Anforderungen an die kognitive Verarbeitung stellen, sind nur bedingt geeignet. Darunter fallen Tätigkeiten wie Planen und Entscheiden oder auch eine eher oberflächliche Bearbeitung von Dokumenten.

Arbeiten, die wenig Anforderungen sowohl an die kognitive als auch an die visuelle Verarbeitung stellen und dabei ohne Handgeräte auskommen, sind wahrscheinlich geeignet, um sie während der automatisierten Fahrt in Level 3 auszuüben.

Es war während der Studie nicht möglich, Eigenschaften von nichtfahrbezogenen Aufgaben zu finden, die sich als geeignet für das automatisierte Fahren in Level 3 eignen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es derartige Aufgaben gibt (siehe Abbildung 3).

Abbildung 3: Entscheidungsampel – Beurteilung der Aufgabeneigenschaften für die NDRT | © DGUV
Abbildung 3: Entscheidungsampel – Beurteilung der Aufgabeneigenschaften für die NDRT ©DGUV

Allerdings fühlten sich im Simulatorversuch die Versuchspersonen bei der Fahrt ohne Nebenaufgaben zunehmend schläfriger, blieben aber unter dem kritischen Schwellwert.[13] Bei Fahrten mit NDRT wurde dieser Effekt nicht gemessen.

Die Ergebnisse der Simulatorstudie legen nahe, dass weiterer Forschungsbedarf besteht, um ein umfassenderes, praxisgerechtes Beurteilungsinstrument zu erstellen, das zum Beispiel Speditionsunternehmen nutzen können, um zusätzliche Beanspruchungen durch die fahrfremde Tätigkeit abzuschätzen. Ziel ist es, das praxisgerechte Instrument zur Gefährdungsbeurteilung für zukünftige Mobilität leicht handhaben zu können.

Die aktuellen Unfallzahlen aus den USA deuten darauf hin, dass die Zeit kurz nach der Übernahme besonders gefährlich für ungeschützte Verkehrsteilnehmende ist. Unfälle mit ungeschützten Verkehrsteilnehmenden (Kinder, Rad fahrende Personen) wurden in Level-3-Fahrzeugen im manuellen Modus meist kurz nach der Übernahme aus hochautomatisierter Fahrt dokumentiert.[14]