Vorrang für barrierefreie Mobilität

Menschen mit Beeinträchtigung werden durch viele Barrieren im Verkehr in ihrer Mobilität behindert. Dabei ist das Recht auf eine barrierefreie Mobilität in verschiedenen Gesetzen verankert und sie ist eine Investition in die Zukunft der Gesellschaft.

Mobilität heißt Beweglichkeit, Lebendigkeit, Wandel und hat einen hohen Stellenwert. Sie wird als Symbol unserer heutigen Zeit betrachtet: mobil sein, mobil kommunizieren, mobil arbeiten, mobil denken. Mobilität führt zur Erweiterung unseres Aktionsradius und zur aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt. Sie eröffnet immer neue Wahlmöglichkeiten, beispielsweise bei der Freizeitgestaltung, und dient der Aufnahme und Aufrechterhaltung von sozialen Kontakten. Das sollte auch für mobilitätseingeschränkte Menschen gelten.

In Deutschland hat etwa jeder zehnte Mensch eine schwere Behinderung, fast ein Drittel der Betroffenen ist über 75 Jahre alt. Mit dem demografischen Wandel wird der Anteil der Menschen mit Behinderung weiter ansteigen. Beim Thema barrierefreie Mobilität muss es also nicht nur um eine sichere und komfortable Fortbewegung gehen, sondern auch um gesellschaftliche Teilhabe und die Möglichkeit, das Leben aktiv zu gestalten.

Recht auf barrierefreie Mobilität

Zudem ist barrierefreie Mobilität keine freiwillige Leistung, sondern ein Recht, das in vielen Gesetzen verankert ist. Dazu zählen die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die Fahrgastrechteverordnung der EU, das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und das Personenbeförderungsgesetz (PBefG).[1] Letzteres schreibt die vollständige Barrierefreiheit im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) seit dem 1. Januar 2022 vor. Vor dem Hintergrund der UN-BRK, die 2009 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet wurde, kommt der barrierefreien Mobilität eine besondere Schlüsselrolle zu. Das Ziel der Konvention ist die gleichberechtigte Teilhabe von allen Menschen an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Die Mobilität von Menschen mit Behinderung gehört zu den zentralen Voraussetzungen einer selbstbestimmten und gleichberechtigten Teilhabe (Artikel 9 und Artikel 20 der UN-BRK).

In diesem Zusammenhang rücken nicht nur das Recht auf Bildung und inklusive Schule, sondern auch die Lebensbereiche Arbeit, Wohnen und Freizeit von Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Menschen mit Behinderung in den Fokus. Ziel ist zum Beispiel, Menschen mit Behinderung und mobilitätsbehinderten Personen einen gleichberechtigten Zugang zu Arbeits-, Kultur- und Freizeitangeboten bereitzustellen. Im Bestreben, Partizipation, Selbstbestimmung, Wahlmöglichkeiten und Inklusion für jeden Menschen zu erreichen, muss Mobilität als fundamentale Voraussetzung ermöglicht werden.

Abbildung 1: E-Scooter können beispielsweise für Menschen mit einer Sehbehinderung zu einer gefährlichen Barriere im Straßenverkehr werden. | © Seema Metha, DVR
Abbildung 1: E-Scooter können beispielsweise für Menschen mit einer Sehbehinderung zu einer gefährlichen Barriere im Straßenverkehr werden. ©Seema Metha, DVR

Barrierefreie Strukturen schaffen

Dabei stehen zwei Aspekte im Vordergrund. Zum einen geht es aus verkehrstechnischer Perspektive darum, Strukturen zu verändern, den Straßenverkehr barrierefreier und kommunikationsfreundlicher zu gestalten. Wer heute ein barrierefreies Mobilitätsangebot plant und aufbaut, spart in Zukunft Kosten für den deutlich teureren Umbau. Die Digitalisierung erleichtert zudem die Umstellung auf inklusive Mobilität und deren Angebote.

Smartphone-Apps können möglichst barrierefreie Routen durch den öffentlichen Raum aufzeigen (siehe „Barrieren an Haltestellen“). Auch geht es aus mobilitätspädagogischer Perspektive darum, Kinder und Jugendliche durch eine adäquate Verkehrserziehung auf die Teilnahme am Straßenverkehr vorzubereiten. Hinzu kommt, dass barrierefreie Mobilitätsangebote auch Vorteile für Menschen ohne Behinderung bieten, die zum Beispiel durch eine Operation oder eine Verletzung vorübergehend eingeschränkt sind. Oder die mit Rollator, sperrigem Gepäck oder Kinderwagen unterwegs sind. Wir alle können sehr schnell vorübergehend oder dauerhaft mobilitätsbehindert werden. Nach Angaben der „Aktion Mensch“ sind nur rund drei Prozent der Behinderungen angeboren. Meist sind Krankheiten, seltener auch Unfälle die Auslöser.

Ziel muss also sein, mobilitätseinschränkende Barrieren, die für Menschen mit Behinderung oftmals unüberwindbare Hürden darstellen, abzubauen. Die Lebensqualität aller steigt mit einem inklusiven und barrierefreien Mobilitätsangebot deutlich, weil dieses auf Komfort und leichten Zugang setzt. Viele Menschen wünschen sich zum Beispiel ein lückenloses, übersichtliches, günstiges und großzügig aufgebautes ÖPNV-Netz. Zudem fördert die Begegnung im öffentlichen Raum und Verkehr die gegenseitige Rücksichtnahme. Eine inklusive Gesellschaft ist eine hilfsbereitere Gesellschaft.

Einschränkungen im Alltag – Umfrage der „Aktion Mensch“

Die alltäglichen Einschränkungen in der Mobilität von Menschen mit Behinderung belegen die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage der „Aktion Mensch“ aus dem Jahr 2022[2]: Jeweils 26 Prozent der Befragten mit Beeinträchtigung gaben an, häufig auf nicht barrierefreie Bahnhöfe oder Haltestellen sowie öffentliche Verkehrsmittel zu stoßen.

Fast ein Drittel der befragten Menschen mit Beeinträchtigung fühlt sich im Alltag häufiger durch zu kurze Fußgänger- und Ampelschaltungen eingeschränkt. Personen mit einer körperlichen Beeinträchtigung sind mit 40 Prozent besonders häufig davon betroffen. Im Vergleich dazu sind es bei Menschen ohne Beeinträchtigung nur 17 Prozent.

Mehr als die Hälfte (54 Prozent) der befragten Menschen ohne Beeinträchtigung erledigt alltägliche Wege, wie zum Beispiel Arztbesuche oder Behördengänge, in bis zu 20 Minuten. Bei den Befragten mit starker Beeinträchtigung schafft es hingegen nur ein Drittel (34 Prozent) in dieser Zeit. Fast zehn Prozent, die sich im Alltag stark beeinträchtigt fühlen, benötigen für solche Wege sogar länger als eine Stunde.

Mehr als ein Drittel der Menschen mit Beeinträchtigung traut es sich zudem nicht zu, selbstständig unterwegs zu sein und zu reisen (34 Prozent). Unter denjenigen mit einer sichtbaren Beeinträchtigung ist dieses fehlende Vertrauen mit 57 Prozent besonders ausgeprägt. Fast ein Drittel der Befragten mit Beeinträchtigung fühlt sich unterwegs unsicher und alleingelassen. Bei Menschen mit einer starken Beeinträchtigung sind es sogar 40 Prozent.

Barrieren an Haltestellen

Um die Barrierefreiheit im öffentlichen Personenverkehr (ÖPV) weiter voranzubringen, hat die TU Chemnitz gemeinsam mit zehn Projektpartnerinnen und -partnern eine App zur Erfassung von Barrieren an Haltestellen entwickelt. Das Verbundprojekt „OPENER next“[3] unter der Leitung von Prof. Dr. Ulrich Heinkel an der TU Chemnitz wurde vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) mit dem Deutschen Mobilitätspreis 2022 in der Kategorie „Daten und Innovationen“ ausgezeichnet.

Die Vision von „OPENER next“ ist es, den ÖPV in Deutschland attraktiver zu gestalten. „Der Ansatz des Projektes basiert dabei auf einem gesellschaftlichen Füreinander, was bedeutet, dass Bürgerinnen und Bürger dazu beitragen können, Haltestellen und deren Eigenschaften bundesweit flächendeckend mittels einer von uns entwickelten App zur Datenerhebung zu erfassen und aktuell zu halten“, berichtet Heinkel. Das Besondere dabei sei, dass nicht nur der Erfassungsaufwand auf mehrere Schultern verteilt wird, sondern auch, dass die Erfassung kontinuierlich und bedarfsgerecht stattfinde.

„Die eigens dafür entwickelte App namens ‚OpenStop‘ soll es interessierten Bürgerinnen und Bürgern durch Beantworten kurzer Fragen ermöglichen, Barrieren und Eigenschaften von Haltestellen schnell und einfach zu erfassen, etwa beim Warten auf den nächsten Bus“, ergänzt René Apitzsch, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt.

Die Daten werden mithilfe der App standardisiert erfasst und zu OpenStreetMap, einer weltweiten gemeinsamen offenen Datenbasis, übertragen. Durch den freien Zugang zum stetig zunehmenden Datenbestand können bereits jetzt auch andere Projekte darauf aufbauen und eigene Lösungen entwickeln. Im Projekt „OPENER next“ sollen die Daten dazu verwendet werden, die Routenauskünfte im ÖPV zu verbessern.

„So können alle Menschen und insbesondere jene mit Mobilitäts-, Seh- oder Höreinschränkungen schon vor Reiseantritt erfahren, ob eine geplante Route barrierefrei ist und welche Alternativen es gegebenenfalls gibt“, erläutert Apitzsch. Darüber hinaus sollen die Daten dazu dienen, eine barrierefreie Indoor-Navigation an Bahnhöfen umzusetzen und den Ausbau von Bus- und Bahnhaltestellen inklusiver und bedarfsgerechter zu planen. 

Dieser Bericht erschien zuerst im DVR Report (Ausgabe 01/2023).